Sie
nennen sich STICKS AND STONES. Warum? Ganz einfach. Drummer Chad Taylor
hat dem Trio den Namen eines seiner Lieblingssongs gegeben. STICKS
AND STONES klingt nach einem klassischen 60-er-Jahre-Lied aus der
Liverpool-Mersey-Sound-Fraktion kurzlebiger Beatles-Epigonen wie Dave-Clark-Five
oder The Searchers.
Aber
wahrscheinlich hat es mehr mit seinem Schlagzeugspiel zu tun. Chad
Taylor ist Mitbegründer des Chicago Underground Trio, das kürzlich
sein zweites Album "Slon" vorgelegt hat, ein minimalistisches,
"kühl-glühendes" Kammermusikwerk, in dem das Schlagzeug
zum gleichberechtigten Partner von Bass und Blasinstrument geworden
ist.
Im
Unterschied zum extrovertierten Charakter von "Slon", -
ausdrücklich als musikalischer Protest gegen Amerikas Kriegspolitik
gedacht -, entwickelt Taylors neue Chicago-Connection STICKS AND STONES
auf ihrem zweiten Album SHED GRACE einen extrem verhaltenen, lyrischen,
introvertierten Ton. Um jedem Missverständnis vorzubeugen: Die
10 Aufnahmen von SHED GRACE klingen kein bischen vernebelt oder esoterisch.
Chad Taylor bleibt beim strengen Minimalismus: Er und seine beiden
Mitstreiter lieben das Schlichte, das Einfache, das sind kleine, knappe
Melodiefragmente, zurückhaltende Bass-Linien, ein bewegtes, aber
durchsichtiges Percussion-Spiel, und alles zusammen: Cool und zart,
aufgewühlt und stets transparent, sehr verspielt, locker, entspannt
und zugleich extrem genau.
SHED
GRACE ist Musik, die zum Hinhören zwingt, die in kein Autoradio
passt und zu keinem guten Buch oder leckerem Essen mitgehört
werden kann. Wer sich auf sie einlässt, lernt nicht nur einen
aufregend guten Drummer und einen exzellenten Bassisten (Josh Abrams)
kennen, sondern eine Altsaxophonistin und Klarinettistin, die vielleicht
gerade dabei ist, zu den ganz großen dieses neuen Jahrhunderts
zu gehören.
Das
sind gefährlich große Worte, aber wie soll man ihr Spiel
beschreiben? Wie ihren weichen, geschmeidigen, warmen Ton, der immer
etwas passiv-verhaltenes hat, der nie gepresst wirkt, auch dort nicht,
wo sie mit schnellsten Läufen eine Bepop-Nummer von Theolonius
Monk - "Skippy" - mehr zitiert und auseinander nimmt als
nachspielt.
In
"Wonder Twins", einer Komposition von Chad Taylor, scheint
sie sich an "My favorite things" von John Coltrane heran
zu tasten, die Melodie ist wie ein knappes Zitat, und mehr noch ihr
Tonfall. Matana Roberts heißt diese junge, farbige Musikerin,
zu deren musikalischen Vorbildern erklärter weise John Coltrane
und Eric Dolphy gehören, denen sie im nächsten Jahr ein
poetisch-theatralisch-musikalisches "tribute-project" widmet.
Sie lebt in New York, arbeitet als Instrumentalistin und Komponistin
in verschiedensten Zusammenhängen, komponiert zur Zeit ein Werk
für großes Ensemble und ist Mitglied des New Yorker "Afro/funk/punk/rock/jazz"-
Kammerensembles BURNT SUGAR.
In
THE REFUSAL, dem zweiten Titel des vorliegenden Albums, macht sie
die Klarinette mit einer Leichtigkeit zum Soloinstrument, als sei
es im Jazz nie out of time gewesen. THE REFUSAL ist eine kammermusikalische
Suite im besten Sinne. Mehrere Sätze, Tempiwechsel von Allegro
zu Adagio, anfangs ein wild bewegtes Wechselspiel zwischen Percussion
(Matana Roberts) und Drums (Chad Taylor), danach setzt die Klarinette
ein mit einem schrägen Sing-Sang, der nach Kinderlied klingt,
der Bass legt einen Riff darunter, die Klarinette erhebt ihre Stimme
zu einer ausgreifenden Soloimprovisation, bis das gesamte Gefüge
harmonisch, rhythmisch und melodisch aufgerissen wird und die Instrumente
sich in freier Form bewegen.
Am
Ende des fast 11-minütigen Stücks - Komponist: Josh Abrams
- erscheinen Bass und Klarinette unisono, das Schlagzeug entwickelt
einen groovenden Rhythmus und die Klarinette bricht mitten in ihrem
eigenartigen Singsang abrupt ab. "The Refusal" ist eine
Verweigerung klassischer Regeln, in dem aber das Verweigern streng
konstruiert wird.
Die
drei Musiker von STICKS AND STONES suchen die Grenzüberschreitung,
sie suchen nach neuen Horizonten, sind sich aber ihrer Wurzeln und
Traditionen bewusst. Neben Thelonious Monk spielen sie Stücke
von Fela Kuti (COLONIAL MENTALITY) und Billy Strayhorn. ISHFAHAN,
so die Komposition des Duke Ellington-Komponisten und Pianisten, beginnt
mit einem entspannt virtuosen Saxophon-Vorspiel, das in einen tiefen
Blues mündet, so graziös und elegant, so cool und innig
vorgetragen, wie es ganz selten zu hören ist.
Kehrt
John Coltrane in Gestalt einer Frau wieder auf Erden zurück?
Was Mantana Roberts - gemeinsam mit Chad Taylor und Josh Abrams -
auf SHED GRACE bietet, - live gespielt und in drei Sessions aufgenommen
- ist ebenso radikal und gleichzeitig entrückt wie die Musik
Coltranes.
Der
von ihr komponierte Schlusstitel "430" beginnt mit einem
rasenden Bepop-Lauf, dem ein langsames - vom gestrichenen Bass begleitetes
- Thema folgt, das sich zersetzt und schließlich immer kleiner
wird, bis es unendlich langsam ausklingt. In der Stille am Ende bleibt
eine zitternde Spannung zurück. SHED GRACE - "geteilte Gnade"
- ist ein ungewöhnliches Stück Musik und ein großes
Versprechen, dass dieses Trio weitermacht.
©
Hans Happel, 16. Mai 2004