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Björks Gespür
für Schnee

 

 

 


Sie ist zurück. Der Schauspielerei hat sie trotz Atem beraubender und Preis gekrönter Darstellung der "Selma" in Lars von Triers Musical "Dancer in the dark" auf ewig abgeschworen und ist nach einiger Rekonvaleszenz zu ihrer großen Liebe, der Musik, zurückgekehrt. Das Ergebnis wurde von vielen heiß ersehnt, da bei der außergewöhnlichen Isländerin mit Überraschungen und besonderen Herausforderungen immer zu rechnen ist.

Ihre Fans waren gewarnt. Ganz anders als "Homogenic", ihr letztes reguläres Studioalbum von 1997, werde "Vespertine". Ruhiger, sanfter, introvertierter: persönlicher. Und tatsächlich: So viel Björk war nie.

Aufbauend auf ruhigen Titeln ihrer letzten Alben wie "All is full of love" (Homogenic), "Headphones" (Post), "Anchor song" (Debut), außerdem ihren hinzu gewonnenen Orchester-Erfahrungen für den Soundtrack von "Dancer in the dark" entstand ein kleines, sehr persönliches Universum experimenteller Klänge, das Björk nunmehr als ihr "Paradies" empfindet, ihren "Kokon", in dem sie sich vor der Welt verstecken kann, oder, wie sie dem dänischen Musikmagazin Gaffa sagte: "Vespertine handelt davon, den Himmel unter dem Küchentisch zu finden" - einen sicheren Schutzraum also, in den sich sonst Kinder zurückziehen, um die Welt aus der Distanz zu betrachten - möglichst ohne dabei selbst gesehen zu werden.

Die meisten Titel zu Vespertine seien während eines mehrmonatigen Rückzugs nach Island entstanden, der Rest später in New York. Es gebe eben Phasen, in denen man sich gern mit vielen Leuten umgebe - und Zeiten, in denen man lieber für sich allein bleibe. Vespertine ist eindeutig ein Dokument der zweiten Phase, der einsamen Zurückgezogenheit, aber damit auch der Selbstbesinnung und des Kräftesammelns.

Galt sie schon immer als Perfektionistin, die alle Fäden ihrer Arbeit in eigenen Händen hält und bei der Realisierung ihrer künstlerischen Visionen kompromisslos ist (zum großen Krach mit Lars von Trier kam es offenbar, als er ihr in Gestaltung des Soundtracks hineinreden wollte - und sie ihm in die Film-Regie ...), so hat sie diese Autonomie doch noch auf keinem Album so durchgängig und konsequent umgesetzt wie auf Vespertine.

Keinesfalls darf man diese Art des Beharrens auf gewonnen Überzeugungen mit Rechthaberei verwechseln: Es gibt wohl nur wenige Musiker wie Björk, die so neugierig und experimentierfreudig sind, wenn es um die Wirkung ihrer Musik mit neuartigen Klängen und ungewöhnliche Instrumenten geht. Das prägende Instrument auf Vespertine ist die Harfe, gespielt von Zeena Parkins, umgarnt und unterlegt von sparsamen Computerbeats, Chorsequenzen und großem, aber leisem Orchester: Vespertine wird niemals wirklich laut.

Dabei greift sie auch auf diesem Album auf die Unterstützung vertrauter Kollegen zurück, darunter Mixer, Programmierer und Arrangeure wie Guy Sighsworth, Vince Mendoza, Marius de Vries und Valgeir Sigurdsson, aber auch mit dem jungen dänischen Sound-Tüftler Thomas Knak schrieb sie zwei der schönsten Titel des ganzen Albums: "Cocoon" und "Undo".

Trotz der prominenten und experimentellen Unterstützung: Die alleinige Produzentin von Vespertine ist Björk selbst. Sie klingt aus jedem Ton des Albums, ihre Stimme beherrscht die gesamte Szenerie, meist zurückhaltend und sanft, melodiös und vorsichtig optimistisch ("Hidden place", "It's not up to you" und "Sun in my mouth" mit einem Gedicht von E.E. Cummings), feierlich und fast sakral ("Undo"), nur selten kräftiger und energischer ("Unison"), dafür manchmal so direkt, zerbrechlich und kristallklar, bis die Intimität des Moments mit Händen zu greifen ist ("Cocoon").

Vespertine funktioniert wie ein vertontes, abstraktes Gemälde. Die Platte besteht aus experimentell komponierten Klangfarben, die sich in ihrer Gesamtheit von der Gegenständlichkeit losgesagt haben und beim Hören ständig und immer wieder neu zusammengesetzt werden müssen, je nach Stimmung des Zuhörers und seiner Bereitschaft, sich in Björks Kokon - wahlweise in sich selbst - hinein zu horchen.

Und wenn man nur gut genug aufpasst, dann treten einem aus manchen Liedern ganze Landschaften entgegen, wenn etwa in "Frosti" nächtlich fallende Schneeflocken fröhlich tanzen und man das Geräusch hört, wie es entsteht, wenn jemand früh morgens durch den leicht angefrorenen Neuschnee stapft, während gleichzeitig "Aurora", die Göttin der Morgenröte aufgeht und die Eiskristalle funkeln lässt ...

Dann dreht man sich noch einmal auf die Seite, genießt die Minuten vor dem Aufstehen und fühlt es auch: Björks Gespür für Schnee.

Michael Frost / 25. August 2001

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