Die
sakrale Atmosphäre der Londoner Union Chapel hat etwas Einschüchterndes.
Vermutlich aus diesem Grund reißt es die Zuhörer nicht schon
beim ersten Song des Konzerts von David Byrne aus den Bänken: "Nothing
but flowers" heißt der Opener, der noch vom letzten Album
der legendären Talking Heads "Naked" stammt. Mit dem
Album bereitete Byrne bereits seinen späteren Weg der intensiven
Auseinandersetzung mit südamerikanischen Rhythmen vor, und auch
heute mündet "Nothing but flowers" in eine rasanten Straßenkarnevalszenerie.
Noch trauen sich die Fans nicht.
Doch
bereits einige Minuten später ist die Zurückhaltung passé.
Noch gerade rechtzeitig gibt David Byrne selbst die offizielle Genehmigung:
"You are allowed to dance in here." Schon zu den ersten
Takten von "Once in a lifetime" stehen die Leute zwischen
den Bankreihen, einige wagen sich weiter vor. "Once in a lifetime"
ist neben "Life during wartime" einer der wenigen Songs
von "Stop making sense", dem legendären Albumklassiker
der Talking Heads. Der dazu gedrehte Konzertfilm gehört heute
zu einem der wichtigsten Musikvideos überhaupt.
Der
Auftritt gerät angesichts der Vielzahl der Klassiker und der
Energie der neueren Stücke schnell zur Party, und Byrne selbst,
mit lasziv-ironischem Hüftschwung, gibt den Takt vor. Später,
in einem der zwischen die Songs gestreuten Interview-Auszüge,
wird er davon sprechen, dass es Zeiten in seinem Leben gegeben habe,
in denen er es kaum ertragen konnte, auf der Bühne zu stehen.
Sieht
man David Byrne heute, im mitreißenden DVD-Mitschnitt seines
Union Chapel-Konzerts, mag man die Aussage kaum glauben. Denn die
Kamera zeigt Byrne nicht nur als Interpreten seiner Songs, sondern
auch als Zeremonienmeister.
Er
hält die gegensätzlichen Elemente zusammen - ein Streichersextett
auf der einen seite, eine grandios besetzte Rhythmussektion auf der
anderen (Drums: David Hilliard, Percussions: Mauro Refosco), die Solo-Songs
der letzten Jahre, dann die alten Hits der Talking Heads, alles fügt
sich von scheinbar leichter Hand in ein harmonisches Klangkonzept
von außergewöhnlicher Qualität und Eleganz.
Stellvertretend
für dieses Konzept steht sicherlich der (viel zu kurze) Schlüsselsong
seines Albums "Look into the eyeball". "The great intoxication"
beginnt mit klassischen Streichersätzen, verwandelt sich aber
nach wenigen Takten in einen explosiven Sambarhythmus, um ebenso schnell
in eine elegische Gesangspartie überzugehen, die sich in wenigen
Strophen steigert - um ebenso schnell, wie sie entwickelt wurde, im
Nichts zu verschwinden. Byrne erzählt darin die Geschichte einer
großen, heftigen Liebe - perfekte Harmonie zwischen Inhalt und
Ausdruck.
Kritiker
haben in der Vergangenheit gelegentlich versucht, David Byrne seinen
Hang zum Perfektionismus vorzuwerfen ("verkopfte Musik")
und dabei übersehen, dass künstlerischer Ausdruck ohne handwerkliches
Können unmöglich ist. Byrne jedenfalls beherrscht beides,
ohne dass die Emotionalität seiner Musik darunter leiden würde.
Darüber
hinaus ist er auch zu absolut unkonventionellen Ausbrüchen in
der Lage. An diesem Abend intoniert er unvermittelt eine Arie aus
Verdis Oper "La Traviata": "Un di felice". Puristen
würden sich an der Atemlosigkeit seiner Interpretation stören,
doch wirklich verübeln mag man ihm den Ausflug in die Klassik
nicht, für Byrne sind diese Arien, wie er dem staunenden Publikum
erklärt, auch nur "Popsongs", wenn auch "sehr
alte". So zieht Byrne einen langen Bogen, der ihn von Giuseppi
Verdi schließlich zurück zu den Talking Heads führt,
und dank seines durchdachten Konzepts ergeben sich tatsächlich
keine Brüche, bis das Konzert schließlich mit "Road
to nowhere", einem der letzten Hits der Talking Heads zu Ende
geht.
©
Michael Frost, 20.02.2005
Nachtrag:
Byrnes Konzert war vermutlich eines der letzten, das in der Union
Chapel stattfinden konnte. Die ehemalige Kirche, die bislang als Sozialzentraum
und eben als Konzertort mit besonderer Atmosphäre genutzt wurde,
steht aufgrund zu hoher Unterhaltungskosten seit Ende Januar 2005
nicht mehr für Konzerte zur Verfügung..