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Gänsehaut und Waschmaschinen

 


 


Es ist ein wenig wie früher, in den seligen Zeiten vor der Verbreitung des Internets. Die Veröffentlichung einer neuen Platte seines Lieblingsstars war ein Ereignis, dem man sehnsüchtig entgegen fieberte. Der Moment vor der heimischen Stereoanlage, in dem die Folie von der CD-Hülle entfernt, die Scheibe eingelegt, das Booklet einer ersten, fast ehrfürchtigen Begutachtung unterzogen und schließlich die Play-Taste gedrückt wurde: ein heiliges Ritual, das im Zeitalter des Downloads seine Bedeutung verloren hat.

Fast. Denn am 4. November 2005 waren sie endlich einmal wieder unterwegs, die Pilger aus verloren geglaubten Zeiten. In der Einkaufstüte trugen sie das neue Werk der Hohepriesterin des Pop: Kate Bush. Es ist ihr erstes Album nach 12 Jahren. Und in dieser halben Ewigkeit hatte sie sich nicht bloß rar, sondern nahezu unsichtbar gemacht. "Sprachlos" sei der Vertreter ihrer Plattenfirma gewesen, als sie ihm am Telefon mitteilte, dass sie ein neues Album fertiggestellt hatte, erzählte sie dem SPIEGEL. Mehr als ein Jahrzehnt hatte die Londoner EMI-Zentrale auf diesen Anruf gewartet.

Nun kann das Comeback des Jahres ausgiebig bestaunt werden. Und schnell wird klar: "Aerial" ist weit mehr als nur das pflichtschuldige Lebenszeichen einer verschollen Geglaubten. Mit der ihr eigenen Magie, traumwandlerischer Sicherheit im Umgang mit Melodien und Arrangements, dem Einsatz von Stimmen und Stimmungen, Poesie und Atmosphäre hat Kate Bush ihrem bisherigen Werk ein neuen Abschnitt, vielleicht ihre ausgereifteste Produktion überhaupt hinzugefügt. Auch die Süddeutsche Zeitung befand, Kate Bush befinde sich "auf der Höhe ihrer Kunst".

Ob sie im Opener "King of the mountain" Elvis ein überraschend druckvolles Denkmal setzt, ihrem Sohn Albert ("Bertie") ein Lied in Form eines Renaissance-Tanzes widmet ("Here comes the sunshine ..."), eine Ode an ihre Mutter wispert ("A coral room") oder die Zahl Pi rezitiert; es sind die intimen, leisen Momente, die noch immer unter die Haut gehen, die leisen Chorpassagen, das verhaltene Schlagzeug, die akustische Gitarre, die unbemerkt eingeflochtenen elektronischen Passagen, das Geflüster, die hohen und die tiefen Töne, die ihr noch immer gelingen, dabei jedoch wärmer und ausgeglichener klingen als auf ihren frühen Alben.

Vielleicht ist "Mrs. Bartolozzi" das Schlüsselstück des ersten Teils von "Aerial" (Die Doppel-cd besteht aus den Teilen "A sea of honey" und "A sky of honey"). Es ist ein innerer Monolog über die Sehnsüchte einer Frau bei der Hausarbeit: "I think I see you standing outside // but it's just your shirt // hanging on the washing line // waving it's arm as the wind blows by // And it looks so alive // nice and white // just like it's climbed right out // of my washing machine ..."

Haben Sie jemals beim Hören des Worts "washing machine" Gänsehaut bekommen? Kate Bush gelingt dieses seltsame Wunder. Schon in der Intonation schwingt die metaphorische Bedeutung des Wortes mit, und zusammen mit dem übrigen Text, dem Gesang und der Klavierbegleitung sieht man die Szene nicht nur vor sich, sondern empfindet sie selbst mit. Wenn sie das Stück mit einem stilisierten Werbejingle enden lässt, offenbart sich die gesamte Leere des Daseins von "Mrs. Bartolozzi", ohne Sarkasmus oder Vorwurf, sondern voller Trauer, mit tiefer, echter Anteilnahme.

Eine Paradebeispiel ist "Mrs. Bartolozzi" letztlich deshalb, weil das Stück zeigt, dass sämtliche Ängste, Kate Bush könnte ihre außerordentliche Fähigkeiten eingebüßt haben, unbegründet waren: Sie transportiert in einem 4-Minuten-Stück mehr Emotionalität und Botschaft als andere in hunderten von Romanseiten.
Auch der zweite Teil von "Aerial", "A sky of honey" genannt, steht für diese herausragende Fähigkeit. Im Unterschied zur ersten CD stellt sie hier nicht einzelne Songs in den Mittelpunkt, Die Stimmung der Lieder orientieren sich an den Stimmungen eines Tagesverlaufs, vom frühen Morgen bis zur Abenddämmerung. Man hört sie mit den Tauben gurren, sieht sie im Sonnenlicht zu einem sanften Flamencorhythmus tanzen, spürt den Wind, den sie als zarte Brise in die Musik legt, ebenso wie sie die Wolken vorüberziehen lässt, bis sich schließlich der Abend neigt: "The dawn has come // and the wine will run ..."

Nicht das Ereignis an sich, sondern die Musik ist es, die überwältigt. Kaum einem Künstler gelingt nach so langer Pause eine derart fantastische Leistung. Und so wächst schon jetzt die Angst vor weiteren Pausen: Wie lange wird es nun dauern, bis Kate Bush, die "Greta Garbo des Pop" wieder von sich hören lässt? Aber, so schrieb der Kritiker der Süddeutschen, selbst wenn: "Wer dieses Album besitzt, der braucht erstmal kein anderes mehr."

© Michael Frost, 06.11.2005

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